„Um die Wahrheit zu sagen: Ich bin kein professioneller ‚Literat‘. Aber eines Tages erwachte in mir ein tiefes Sehnen, das sich in eine brennende, mich umtreibende Frage verwandelte: Warum hat mein Volk kein eigenes Schriftsystem?“
So leitete Elisa (Wir geben ihm dieses biblische Pseudonym) seine Geschichte über die Anfänge seiner Mitarbeit in einem unserer Übersetzungsprojekte im Kaukasus ein. In unserem Gespräch erkannte ich Elisas grosse Hilfsbereitschaft, aber auch seine Abneigung zu sprechen. Seine Freundlichkeit kämpfte mit seiner festen Entschlossenheit, unerkannt zu bleiben. Erst nach meiner Zusicherung, dass sein Name nicht genannt würde, begann Elisa ungezwungen zu sprechen. Seine Worte waren eine von Herzen kommende Bestätigung für zwei bei kaukasischen Kulturen typische Eigenschaften: das grosse Verantwortungsgefühl und die Grosszügigkeit. Während dem halbstündigen Interview war ich die Fremde, die Elisas Hilfe brauchte, und er erwies sich als ein sehr wohlwollender Gastgeber, der mich in die besten Seiten seiner Kultur einführte. Ein Beispiel möge genügen: In vielen Kulturen des Kaukasus gilt es als unhöflich, einen Gast nach dem Grund seines Besuchs zu fragen. Ein Durchreisender kann während drei Tagen die Gastfreundschaft und den Schutz seines Gastgebers ohne Gegenleistung geniessen. Bleibt er länger, so wird er als Familienmitglied betrachtet und nimmt dann folgerichtig auch an der Arbeit im gemeinsamen Haushalt teil.
Die ethnische Gruppe, zu der Elisa gehört, lebt in Dagestan (Südrussland) und in Aserbaidschan. Elisa wohnt auf der aserbaidschanischen Seite der Grenze, wo auch das Haus seiner Väter steht und seine Wurzeln sind. Er ist ein Spezialist in Agrikultur, aber sein brennendes Verlangen, seinem Volk ein Schriftsystem und Literatur zu vermitteln, ist nicht bloss der gefühlsbetonte Impuls eines Amateurs. Das Ganze wird durch sein literarisches Talent untermauert. Elisa erzählt: „Meine literarischen Anfänge waren Kindergedichte. Damals begann ich, neue Buchstaben zu erfinden, um die Laute meiner Sprache wiederzugeben. 1994 wurde ein auf der kyrillischen Schrift basiertes Alphabet für mein Volk in Dagestan geschaffen, aber in Aserbaidschan wird die lateinische Schrift gebraucht. Das kyrillische Alphabet ist dort nicht erlaubt… So wendete ich mich der mündlichen Wiedergabe zu. Da gibt es den schönen aserischen Brauch, an Hochzeiten Lieder zu singen, und ich fragte mich, ob es möglich wäre, in unserer Sprache Hochzeitslieder zu dichten. Nun, wenn heute in meinem Volk eine Hochzeit gefeiert wird, so sind es meine Lieder, die da erklingen.“ Seine Worte tönten beiläufig und bescheiden. Da war kein Stolz herauszuhören, viel eher klang es nach einem nüchternen Bericht über den Fortschritt in Elisas Lebensprojekt. Elisa gehört tatsächlich zu den wenigen Menschen, die professionell in seinem Dialekt schreiben. Seine Sprache ist aufgeteilt in fünf Dialekte. Seine Muttersprache (eine von zwei wichtigen Dialektformen) ist der einzige Dialekt, der in Aserbaidschan gesprochen wird. Die Literatursprache basiert jedoch auf einem anderen Dialekt, der hauptsächlich in Dagestan gesprochen wird. Die Aserbaidschaner, die Elisas Dialekt sprechen, verstehen die Literatursprache somit nur zu 50-60%.
Wenn das IBT in muslimischen Gegenden Bibelübersetzungsprojekte durchführt, geschieht dies meistens folgendermassen: Der Übersetzer oder die Übersetzerin ist muslimisch und sehr engagiert für die Erhaltung seiner/ihrer Muttersprache. Die Bibel wird dabei als ein ausgezeichnetes Mittel zur Entwicklung der Sprache angesehen. Dies ist ein sorgfältiger wissenschaftlicher Ansatz, der, obwohl weltlich, sich als sehr fruchtbar erweisen kann und unter den gegebenen Umständen oft die einzige Möglichkeit ist, die Bibel überhaupt zu übersetzen. Aber hinter Elisas Entschluss, sich mit der Bibelübersetzung zu befassen, war offensichtlich mehr als eine tiefsitzende Liebe zu seiner Muttersprache. Er hat ein sehr durchdachtes, originelles und hoch philosophisches Konzept über die menschliche Erziehung entwickelt, in dem die Bibel eine entscheidende Rolle spielt.
„Ich kann einem Schulkind das Lesen und das Schreiben beibringen“, beginnt er, seinen Standpunkt zu erklären, „aber was kommt danach? Nehmen wir an, in unserer Sprache existiert sogar ein Roman. Aber bevor das Kind mit dem Lesen des Romans beginnen kann, sollten wir ihm etwas anderes geben können. Schau die Bibel an! Hier haben wir nicht nur ein einziges Buch eines bestimmten Typs, wir haben eine ganze Bibliothek! Sie enthält so viel für die ganze Menschheit. Ich sehe es so: Zuerst geht man in den Kindergarten, dann in die Schule – und dann kommt die Religion! Ja, die Religion sollte den gleichen Wert wie die anderen Erziehungsschritte haben, weil sie alle dem gleichen Ziel dienen: das menschliche Wesen soll wirklich ein MENSCH werden. Kindergarten und Schule haben ihre Programme, aber die Religion steht über diesen. Der Koran sagt, dass man allen von Gott geschenkten Büchern Vertrauen schenken soll, nicht nur dem Koran. Der Mensch soll allen Propheten glauben, nicht nur einem unter ihnen. Wenn ich einem einzigen Propheten nicht glaube, dann bin ich kein echter Moslem. Es ist das grundlegende Ziel jeder Religion, dem Menschen zu helfen, wirklich Mensch zu werden. Gott hat Hunderte von Namen, und die Menschen rufen ihn unterschiedlich an. Und doch ist er EINER. Wir sollten beginnen, auf das Fundament der Bibel zu bauen, denn sie erzählt die Menschheitsgeschichte. Und stell dir vor: Mein Volk hat überhaupt keine Bibelübersetzung. Was für ein Mangel! Vielleicht kann man in Dagestan zumindest eine russische Übersetzung finden, aber in Aserbaidschan konnte ich keine einzige finden, bis ich an der Bibelübersetzung zu arbeiten begann und ich vom Team eine Aseri-Bibel bekam. Ohne sie hätte ich nie eine Bibel gesehen! Ist das nicht der Beweis dafür, wie dringend nötig die Übersetzung ist? Darum habe ich mich fürs Übersetzen entschieden. Einige meiner Bekannten fragten mich: „Warum machst du da mit? Wer die Bibel lesen will, soll doch nach einer russischen Bibel suchen und sie lesen“. Aber ich wollte, dass die biblischen Texte in meiner eigenen Sprache zur Verfügung stünden. Ich weiss einfach, dass es so sein sollte.
Die Bibel ist kein Märchen, sie ist ernsthafte Literatur, und sie zu übersetzen, ist keine Spielerei. Ja, es ist sehr schwierig, sie zu übersetzen. Manchmal sind da bloss 2-3 Textzeilen, aber ich denke tagelang darüber nach. So war es bei 1. Mose 1,6-7, wo steht: ‚Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste vom Wasser über der Feste‘. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass täglich 600 Millionen Tonnen Wasser als Regen auf die Erde fallen. Das ist aber nicht alles: Auch der Ozean ist Wasser. Wenn da nicht eine zweite Wasserschicht wäre, gäbe es keinen Wasserkreislauf und damit auch kein Leben auf der Erde. Wir alle leben dank dieser zweiten Wasserschicht. So hat Gott das sichtbare Wasser nicht vergebens von dem unsichtbaren getrennt. Diese Bedeutung im Text auszudrücken, war sehr schwierig, aber schliesslich gelang es mir doch. Ausführliche Kommentare bringen in diesen Fällen nichts – die Übersetzung selber muss knapp und klar sein; ein einziges falsches Wort kann den Leser zu einer falschen Interpretation führen.“
Die Bibelübersetzung, von der hier die Rede ist, ist ein SIL-Projekt, an dem das IBT mitwirkt. Das IBT stellt den Übersetzungsberater zur Verfügung, während unsere Kolleginnen und Kollegen vom SIL die Übersetzungsarbeit koordinieren. Als Nächstes wird an einer Serie mit dem Titel „Geschichten der Propheten“ gearbeitet. Darin sind die Schöpfung und die Geschichten der ersten Menschen („Der Anfang“) enthalten, die Geschichten von Noah und dem Turmbau zu Babel, die Geschichte vom König Salomo („Der weiseste Mann auf Erden“) mit einer Auswahl aus den Sprüchen, die diese Weisheit aufzeigen. Die Geschichte von Abraham ist als Entwurf vorhanden, und fünf Gleichnisse aus dem Lukasevangelium sind fertig übersetzt und als Audioaufnahme bereit. Aber um irgendetwas in Aserbaidschan veröffentlichen zu können, muss ein staatliches Komitee seine Bewilligung geben. Wenn das nicht geschieht, wird es in diesem Projekt nur online-Publikationen geben. Trotz dieser Schwierigkeit hat das gesamte übersetzte Material in den Überprüfungen positive Echos ausgelöst. Für die gewöhnlichen Leserinnen und Leser ist es nicht weniger interessant als für den Übersetzer.
2018 wird das IBT für die nordkaukasischen Sprachen ein Seminar über das Engagement für die Bibel halten. Dafür brauchen wir finanzielle Mittel. Das Gesamtbudget beläuft sich auf CHF 5‘434.- Dieser Betrag deckt alle Kosten für 20 Teilnehmer (5 Tage, inkl. Reise, Unterkunft und Essen sowie zusätzliche Auslagen wie Internet). CHF 271.- decken die Kosten für einen Teilnehmer. Mit CHF 52.50 kann ein Tag für einen Teilnehmer bezahlt werden. Ihre Unterstützung mit Gebet und finanziellen Mitteln schätzen wir sehr.
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