Die Ewenken leben in der sibirischen Taiga über eine riesige Fläche verstreut. Der russischen Volkszählung von 2010 zufolge gibt es um die 38‘000 Ewenken, aber es ist sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu schätzen, wie viele Menschen tatsächlich die ewenkische Sprache sprechen. Einige bezeichnen das Ewenkische als ihre Muttersprache, einfach weil sie eine Beziehung dazu empfinden und nicht weil sie es tatsächlich sprechen. Andere sprechen fliessend Ewenkisch, geben aber aus irgendeinem Grunde Russisch als ihre erste Sprache an. Karina, eine junge Sprachwissenschaftlerin vom Linguistischen Institut in Moskau verbringt einen grossen Teil ihrer Zeit auf Expeditionen in den Regionen des Nordens, wo die Ewenken leben, und sie sagt, dass deren Sprache sehr gefährdet sei, weil es so wenige Orte gibt, wo Ewenken gemeinschaftlich leben. Verstreut über riesige Gebiete werden etwa 50 Dialekte und Unterdialekte des Ewenkischen gesprochen. „Nur Rentierhirten, die ihren Rentieren während der Hälfte des Jahres durch die Tundra folgen und damit vom Einflussbereich der dominierenden Sprachen wie Russisch oder Jakutisch weit entfernt sind, haben eine echte Möglichkeit, ihre Sprache zu bewahren“, folgert sie aus den Erfahrungen ihrer sprachwissenschaftlichen Expeditionen.
Ein anderer Sprachwissenschaftler, Matt aus den Vereinigten Staaten, wollte genau dies unternehmen: zuerst den Rentieren folgen und dann einen Winter in einer Jagdhütte verbringen, nicht nur um die Sprache zu lernen, sondern auch um die Lebensweise der ewenkischen Hirten hautnah zu erfahren. Matt erzählte uns folgendes: „Das Leben der ewenkischen Rentierhirten ist so weit entfernt von allem, was Menschen in den USA oder in Moskau je erlebt haben. Ihre Welt hat ihre eigenen Regeln, eigenes Wissen und Hierarchien. Es gleicht in keiner Weise dem, was ich selber bis dahin gekannt habe. Ich habe eine Frau aus Krasnojarsk, die jetzt in Kalifornien lebt, getroffen und ihr von meinem eigenen Leben in Krasnojarsk erzählt und wie ich mit den Ewenken herumgezogen bin. Ich sprach über deren traditionellen Lebensstil, erklärte, dass einige immer noch in Jurten leben und mit ihren Rentierherden wandern. Und sie sagte: ‚Nein. In Russland lebt niemand in einer Jurte‘. Ich antwortete: ‚Aber ich bin selber bei Leuten gewesen, die in einer Jurte leben‘. ‚Nein, das gibt es nicht mehr. Solches gab es vor hundert Jahren‘, hielt sie hartnäckig fest…“
„Die Ewenken haben ein riesiges Wissen und viele besondere Fähigkeiten“, so fuhr Matt weiter. „Ich weiss, was jagen ist und ich dachte: Jäger sind ungebildete, einfache Menschen. Ich bin ein intelligenter Kerl, ich habe höhere Studienabschlüsse. In ein paar Wochen werde ich alles, was zum Jagen gehört, gelernt haben. Ein einheimischer Mann hatte mich und einen weiteren Mann eingeladen, den Winter mit ihm in seiner Jagdhütte zu verbringen. Sehr schnell erkannte ich, dass ich mich niemals würde mit diesen Menschen und ihrem Wissen vergleichen können…“
Die Hütte befand sich in der Umgebung einer Stadt mit Namen Baykit am Ufer vom Podkamennaya Tunguska, einem Arm des Flusses Jenissei. Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt dort -6,3° Celsius. Im Winter sinkt die Temperatur manchmal auf -56°.
Matt beschrieb ihre Lebensbedingungen folgendermassen: „Wir hatten weder Heizung, noch Elektrizität. Wir fällten Bäume und machten Brennholz daraus. Während der Nacht musste jemand alle drei Stunden aufstehen und Holz ins Feuer legen. In der ewenkischen Kultur bedeutet es Unglück, wenn du das Feuer ausgehen lässt, und so waren sie sehr aufmerksam, es die ganze Nacht durch am Brennen zu halten. Und sie waren sehr gut darin. Wenn ich für das Feuer verantwortlich war, musste ich es oft neu anzünden, weil ich es nicht schnell genug wieder aufflammen liess.“ Kein Wunder, dass Matt als moderner Mensch kein Experte in Überlebenskünsten war.
Einer seiner beiden Mitbewohner, nennen wir ihn Genadi, war ein Atheist, und wenn Matt etwas falsch machte, beklagte er sich immer: „Deine Gebete wirken nicht“. Wenn Matt in seiner englischen Bibel las, sagte er: „Du verlierst deine Zeit wieder mit Beten“ und machte sich über ihn lustig. Das Leben dieser drei Männer mit sehr unterschiedlichen Lebensanschauungen, die unter überaus harten Bedingungen fernab von der Zivilisation isoliert in einer Waldhütte im sibirischen Winter zusammen lebten, trug viel Potential für heftige Auseinandersetzungen in sich, und doch erinnert Matt sich liebevoll daran:
„Der Besitzer des Landstücks, auf dem die Hütte stand, Georgi (Name geändert), ist ein orthodoxer Christ. Er besitzt ein wunderbares Exemplar des Evangeliums in russischer Sprache mit einer Christusikone auf dem Einband. Üblicherweise stand diese Ikone auf einem Brett mit Deckchen an die Wand gelehnt und war das einzige Schmuckelement in der sonst primitiven Hütte. Als ich mit Georgi in der Hütte ankam, lag das Buch mit der Vorderseite nach unten auf dem Tisch. Er fragte Genadi: ‚ Warum liegt mein Erlöser auf seinem Angesicht? Er sollte aufrecht stehen, so dass wir ihn alle sehen können‘. Genadi murmelte eine Antwort und beschäftigte sich anderweitig. Einige Tage später verliess uns Georgi wieder, um weit von der Hütte entfernt zu arbeiten. Genadi und ich reparierten Skis auf dem Tisch. Er zeigte auf die Bibel. ‚Beseitige sie!‘ Er sagte das so heftig, dass ich dahinter mehr als blosses Unbehagen vermutete. ‚Du liebst die Bibel nicht?‘ fragte ich. ‚Nein‘. ‚Warum nicht?‘ Er dachte eine Weile nach und sagte dann: ‚Ich hab’s. Ich bin ein Sünder‘. Ich stellte die Bibel auf das Brett, aber das war nicht genug. Einige Minuten später warf er den Ski zu Boden, nahm die Bibel und vergrub sie unter einem Stoss alter Zeitungen in der hintersten Ecke, wo er nicht einmal den Rücken des ihn beleidigenden Buches sehen würde.“
So hatte Matt keine grossen Hoffnungen, dass er Genadi noch dazu bringen würde, sich mit der ewenkischen Bibel zu beschäftigen, als sie einige Monate später in die Stadt zurückkehrten. Sie hatten über die ewenkische Sprache gesprochen und einige Bücher über die lokale ewenkische Geschichte durchgesehen. Da beschloss Matt, einen Versuch zu wagen und Genadi die ewenkische Kinderbibel des IBT zu zeigen, um zu sehen, wie er reagieren würde.
„Ich nahm das Buch hervor und erwartete eine heftige Reaktion, denn das ewenkische Wort für ‚Bibel‘ heisst ‚Biblia‘ und war im Titel auf dem Einband sehr gut erkennbar. So dachte ich, ich würde es mit der gewohnten negativen Reaktion zu tun bekommen. Aber Genadi öffnete das Buch und begann die Schöpfungsgeschichte zu lesen. Er las die ersten paar Worte auf Ewenkisch, dann schaute er mich mit einem breiten Lächeln an und sagte: ‚Wow! Das ist ja unsere Sprache!‘ Und obwohl wir nach unserer langen Zeit in den Wäldern müde und hungrig waren, lasen wir während anderthalb Stunden weiter. Wir lasen Seite um Seite, und er erklärte mir die Geschichte, berichtete, was da vor sich ging. Oft lachte er vor Freude über die Tatsache, dass wir da zusammen lasen, uns gemeinsam durch die Abschnitte arbeiteten und über die Wortwahl diskutierten. Wir hörten nur auf, weil es Zeit zum Essen war. Diese Zeit, die ich da lesend mit Genadi verbracht habe, das war der Höhepunkt meines Aufenthalts in Russland. So deutlich wie nur möglich zeigt sie auf, dass die Arbeit der Bibelübersetzung einen grossen Wert hat, auch für diejenigen, deren Sprache am Aussterben ist, auch für diejenigen, die die russische Sprache in allen Belangen bevorzugen (so wie es bei Genadi den Anschein machte) und sogar für diejenigen, deren Verständnis für den Inhalt des Gelesenen gering ist.“
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