„Ich hatte keine Angst“
Rundbrief, Sommer 2021

Nina, eine Überprüferin im kalmückischen Bibelübersetzungsprojekt, ist eine der ersten lokalen Mitarbeiterinnen, die sich für die Aktivitäten des IBT Russland engagiert hat. Sie begann damit im Jahr 1992 und hat bis heute daran festgehalten. Als ich sie fragte, wie sie zur Übersetzung der Bibel gekommen sei und ob sie für diese Arbeit ausgewählt wurde, weil sie eine Sprachwissenschaftlerin oder weil sie Christin war, konnte sie mir zuerst die Frage gar nicht beantworten. Es schien, als ob der wahre Grund für Nina immer noch ein Geheimnis sei. So begannen wir, das Durcheinander in dieser Lebensphase gemeinsam zu entwirren.

„Nein, ich war keine Sprachwissenschaftlerin. Ich habe Medizin studiert und setzte meine Studien am Institut für Biologie an der Universität fort. Während langer Zeit stand meine Ausbildung im Konflikt mit meinem neuen christlichen Glauben. Die Geschichte von Jona und dem Walfisch war mir zum Beispiel ein richtiger Stolperstein. Als Biologin konnte ich nicht glauben, dass Jona drei Tage im Bauch des Walfisches war und dass er dort atmen und überleben konnte. Diese Episode blieb für mich ein Problem, bis ich einem anderen, für seinen christlichen Glauben bekannten Wissenschaftler einen Brief schrieb. Dieser erklärte mir, dass der „Wal“ in der Synodalen Russischen Bibelübersetzung gar kein richtiger Wal, sondern irgendein grosses Meerestier war. Das zeigte mir, wie wichtig die Genauigkeit in der Übersetzung ist.“

Nina fuhr fort: „Du hast mich gefragt, ob ich in den frühen 90er Jahren eingeladen worden sei, im kalmückischen Übersetzungsprojekt mitzuwirken, weil ich damals schon Christin war, während die grosse Mehrheit der Kalmücken in der nachsowjetischen Zeit Atheisten oder Buddhisten waren, was unsere traditionelle Religion ist. Ehrlich gesagt, denke ich nicht, dass mein Christsein damals reif genug war, um der Arbeit an der Bibelübersetzung zu genügen. Der Glaube war immer noch neu für mich, und ich verstand nicht viel davon.“

„Warst du denn bekannt für deine vertieften Kenntnisse in deiner Muttersprache?“ beharrte ich.

„Ja, das war ich“, sagte sie mit Nachdruck. „Als ich aber angefragt wurde, im Projekt mitzumachen, war meine erste Reaktion trotzdem: ‚Warum gerade ich? Es gibt doch noch andere, die gut kalmückisch sprechen, die aber, anders als ich, auf dem Gebiet unserer Muttersprache Fachleute sind und in Schulen oder an Universitäten kalmückisch unterrichten‘. Die Person, die mich angefragt hat, seufzte und antwortete: ‚Ja, das stimmt. Aber sie haben alle Angst‘. Ich dagegen hatte keine Angst. Selbst jetzt noch, wo sich das Projekt doch während Jahren so gut entwickelt hat, beklagen sich andere Team-Mitglieder manchmal, dass sie wegen ihrer Arbeit an der Bibelübersetzung gehänselt werden. Die Leute fragen spöttisch: ‚Bist du jetzt ein Christ? Hast du dich zum russischen Gott bekehrt‘? Aber ich werde nicht verspottet. Alle sind jetzt an die Tatsache, dass ich eine Christin bin, gewöhnt, denn von allem Anfang an habe ich nie versucht, das zu verstecken. Die Leute sehen meinen christlichen Glauben und meinen evangelischen Lebensstil (ich rauche und trinke nicht usw.) als Teil meiner Identität. Das mag die Frage beantworten, warum ich in das Team eingeladen worden bin: Ich hatte keine Angst.“

„Ich erinnere mich an eine interessante Episode bei meiner ersten Überprüfungsarbeit. Ich las den Anfang eines Übersetzungsentwurfs des Lukasevangeliums einer älteren Dame vor. Da rief sie plötzlich aus: ‚Das ist aber kein neuer Text. Ich erinnere mich daran, ihn in meiner Jugend gehört zu haben.‘ Ich war schockiert, das zu hören. Sie fuhr fort: ‚Als ich ein junges Mädchen war, las mir ein buddhistischer Priester genau diese Geschichte in einem buddhistischen Tempel vor.‘ Ich forschte weiter in dieser Angelegenheit. Es zeigte sich, dass die von Professor Pozdneev in den 1880er Jahren erarbeitete Übersetzung des Evangeliums ins Kalmückische, die noch in der alten todo bichig genannten Schrift geschrieben war, zusammen mit buddhistischer Literatur derselben Schriftart in einem buddhistischen Tempel aufbewahrt worden sein muss. In den Jahren des staatlichen Atheismus und der totalen religiösen Verwirrung wechselte die kalmückische Schrift mehrmals, und nur buddhistische Lamas konnten todo bichig (=klare Schrift) noch lesen. Wahrscheinlich ist ein Fragment der christlichen Bibel in dieses buddhistische Kloster gelangt und zusammen mit anderen Textfragmenten derselben Schriftart aufbewahrt worden. Das ist jedenfalls die einzige Erklärung, die ich mir vorstellen kann. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme, dass Christus ein russischer Gott sei, dachten die kalmückischen buddhistischen Mönche also, dass das christliche Schriftstück zu ihrer Tradition gehörte. So verändert die eigene Muttersprache die Einstellung zu den Sachen!“

„In meiner Familie war mein Onkel der Einzige, der die alte Schrift lesen konnte. Er war Priester in einem buddhistischen khurul (Tempel). Bis jetzt habe ich selber noch nicht gelernt, sie zu lesen, weil das heutzutage nicht mehr nötig ist, basiert die heutige kalmückische Schrift doch auf dem kyrillischen Alphabet. Aber unser Exegeseberater Alexander hat die alte Schrift erlernt. Er will im vorrevolutionären Neuen Testament nach Hilfen bei Übersetzungsentscheidungen forschen und die dort verwendeten Schlüsselbegriffe mit denen in der neuen IBT-Übersetzung vergleichen können.“

„Aber nun will ich zum Grund meiner Mitarbeit im Projekt zurückkommen. Der damalige Exegeseberater sagte, dass die Bibelübersetzung die kalmückische Sprache neu beleben werde. Diese Worte erfreuten mein Herz so, dass ich sofort am Projekt teilnehmen wollte. Wusstest du, dass unsere kalmückische Sprache in Gefahr war und es immer noch ist? Unter Stalins Regime wurde die gesamte kalmückische Bevölkerung nach Sibirien deportiert. Dort bin ich geboren, dort verbrachte ich die ersten Jahre meiner Kindheit. Paradoxerweise sprachen wir in Sibirien kalmückisch; als wir aber in den 1950er Jahren wieder in unsere Heimat zurückkehren durften, hörten wir nach und nach auf, unsere Sprache zu benutzen. Wahrscheinlich hatten unsere Leute ein dringendes Bedürfnis, unsere ethnische Identität zu bewahren, während wir zerstreut unter anderen Völkern im Exil lebten. Nach der Rückkehr in das eigene Land wollten die kalmückischen Kommunisten jedoch ihre Loyalität zu Russland beweisen, und so wurde Russisch die vorherrschende Sprache in Kalmückien. Ich war 12 Jahre alt, als meine Familie von Sibirien zurückkehrte. Daheim sprachen wir weiterhin kalmückisch, aber Russisch war damals schon zur Sprache der Schulbildung geworden. Es gab nur zwei Lektionen pro Woche, in denen die kalmückische Sprache unterrichtet wurde. Als ich mit meiner Arbeit als Überprüferin für die Bibelübersetzung begann, kam es mir gar nicht in den Sinn, diese Texte an junge Menschen heranzutragen. Ich war überzeugt, dass niemand von ihnen die kalmückische Sprache gut genug kannte, um mir in der Überprüfung helfen zu können. So wurde das kalmückische Neue Testament mit älteren Leserinnen und Lesern überprüft. Meine Vorgehensweise war folgende: Ich begann damit, dass ich mit den Leuten über alltägliche Themen sprach. Wenn es sich dann herausstellte, dass sie im Gebrauch der kalmückischen Sprache kompetent waren, bat ich sie, sich an der Überprüfungsarbeit zu beteiligen. Als jedoch unser neuer Exeget Alexander zum IBT-Projekt stiess, war er von der Idee des ‚Engagements für die Bibel‘ begeistert. Er gründete eine kirchenübergreifende kalmückische Lesegruppe, die jetzt von einem kalmückischen Pastor geleitet wird. Nun zeigt es sich, dass es doch ein paar junge Leute gibt, die unsere Sprache gut beherrschen und sich daher in die Überprüfungsarbeit einbringen können. Darüber hinaus ist unsere kalmückische Lesegruppe ein Ort geworden, an dem wir unsere muttersprachlichen Fähigkeiten entwickeln können. So hat beispielsweise eine junge Frau begonnen, christliche Lieder zu komponieren und vorzutragen, während ich Gedichte schreibe. Neue Ausdrücke, die dank der Bibelübersetzung entstanden sind, werden nach und nach in unsere Sprache aufgenommen.“

Nina bekräftigt, dass es für sie wirklich interessant ist, jetzt an der Überprüfung der alttestamentlichen Bücher zu arbeiten. (Das 5. Buch Moses ist dabei das neuste.) Der ganze Pentateuch soll der IBT-Abteilung für Veröffentlichungen in naher Zukunft übergeben werden. Ninas nächste Aufgabe wird die Überprüfung der Propheten Habakuk und Maleachi sein. Wir hoffen, dass die biblische Botschaft der alttestamentlichen Bücher eifrige junge und ältere Leserinnen und Leser finden wird.

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