Russland ist gross, und der Zeitunterschied zwischen Moskau und Jakutien (Republik Sacha) beträgt sechs Stunden. Am Ende einer Arbeitswoche mit dem Übersetzungsberater im Moskauer IBT-Büro befragte ich unsere Jakutisch-Übersetzerin Sargylana nach den neuesten Nachrichten ihre Übersetzung betreffend. Während dem Gespräch stellte sich heraus, dass sie jeden Morgen um 4 Uhr aufgestanden ist – in Jakutien war es 10 Uhr –, weil Sargylana sich nicht an die Moskauer Zeit gewöhnen wollte. Nach einem langen Arbeitstag und unvermeidlichen Haushaltsarbeiten am Abend ging sie der Moskauer Zeit entsprechend zu Bett. So ergab das für sie bloss fünf Stunden Schlaf. Aber das entspricht ihrer ausserordentlichen Hingabe, und der Versuch, sie zu mehr Sorgfalt im Umgang mit sich selber zu bewegen, schien nutzlos.
Die Zeitzonen sind nicht der einzige Unterschied zwischen Moskau und Jakutien. Auch das Klima unterscheidet die zwei Orte. Die meisten wissen, dass es in Jakutien sehr kalt ist, wenigen aber ist bewusst, dass es beinahe jedes Jahr in der Sommermitte eine kurze sehr heisse Periode gibt. Die Temperaturen können bis 38° Celsius ansteigen, und in der Taiga gibt es oft Waldbrände. Im Winter sind andererseits Erfrierungen das Hauptproblem für die Bevölkerung. Vor einigen Jahren war Sargylanas Neffe, damals noch ein kleiner Bub, nahe daran, wegen Erfrierung einen Finger zu verlieren. Die Ärzte dachten, eine Amputation sei unvermeidlich, aber viele Leute beteten für den Jungen. Überrascht und erleichtert konnten dann die Ärzte die Hand des Buben retten und medikamentös behandeln. Preis sei Gott – es war ein echtes Wunder! „Wenn der Finger amputiert worden wäre“, sagt Sargylana, „wäre sein Leben ruiniert gewesen. Alle hätten gedacht, er sei ein Alkoholiker, weil Betrunkene oft zu lang an der Kälte bleiben und Erfrierungen an den Fingern davontragen, die dann Amputationen zur Folge haben.
“Sargylana berichtete dann auch vom Geheimnis ihrer hoch professionellen Vorgehensweise bei der Bibelübersetzung: „Wenn ich zu übersetzen beginne, verlasse ich die Stadt“, erzählte sie. „In der Stadt wird hauptsächlich Russisch gesprochen, und selbst wenn die Leute Jakutisch reden, so ist ihre Sprache doch nicht korrekt, sie ist hölzern und hat ihre Schönheit verloren. Auch meine eigene Sprache wird schwerfällig und unbeholfen. Wenn ich aber ins Dorf zurückkehre, so ist das, als ob ich in sprudelndes Wasser eintauchte. Meine Zunge wird befreit, und ich fange an, wie echte Jakuten zu reden. Wenn ich übersetze, ist Vilyuisky-ulus, die Region, in der meine Mutter wohnt, der beste Ort zum Leben. Die jakutische Sprache hat in unserem Heimatort ihren ursprünglichen Reichtum und ihre Geschmeidigkeit bewahrt. In diesem Zusammenhang kann ich eine lustige Geschichte erzählen. Auf meiner Suche nach der richtigen jakutischen Ausdrucksweise für einige biblische Abschnitte sprach ich öfters mit Jägern, Schmieden und Juwelieren. Bei der Übersetzung des Hohelieds, wo der Text ‚Gazelle‘ oder ‚Hirsch‘ erwähnt, traf ich auf ein jakutisches Wort für einen jungen Hirsch, das wie ‚junge Gazelle‘ tönt. Ich wusste aber nicht recht, ob dieses neue Wort verständlich sei oder nicht. Ich befragte verschiedene Personen, unter ihnen meinen Bruder. Er meinte: „Warum nicht? Genau so sagen die Leute gewöhnlich.“ Ich war verblüfft. „Alle sagen so?“ fragte ich. „Natürlich sagen sie so! Alle gebrauchen genau dieses Wort: Das Jungtier einer Gazelle!“ Ich war immer verwirrter und wollte Klarheit haben. „Was meinst du, wenn du sagst, dass die Leute über Gazellen oder Gazellenjungtiere sprechen, wenn wir doch in unserer Gegend gar keine haben? Wie kommt es, dass die Leute darüber sprechen?“ Er sagte: „Nun, hier im Dorf haben wir bis jetzt keine jungen Gazellen, aber in der Stadt Vilyuisk sind sie vor kurzem aufgetaucht, und als ich kürzlich dort war, habe ich drei-, viermal junge Gazellen mit eigenen Augen gesehen.“ Das war absurd! Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Gazellen in unsere nördliche Gegend gekommen sein sollten. Ich dachte, mein Bruder mache sich über mich lustig, und fing an, mich zu nerven. So bat ich ihn, mir diese junge Gazelle, die er mit eigenen Augen gesehen haben wollte, zu beschreiben. Er antwortete: „Sie ist kleiner als eine Gazelle, aber sie fährt auf vier grossen Rädern“. Erst da realisierte ich, dass er an eine neue Automarke dachte, die ‚Gazelle‘ heisst! Darum ist es so wichtig, die Übersetzungen mit Leuten zu überprüfen, die die betreffende Sprache als Muttersprache sprechen.“
„Ich schreibe meine Entwürfe nie sofort ab, wenn ich mit einer Übersetzung beginne“, fährt Sargylana weiter. „Zuerst lese ich sie mir laut vor. Die Jakuten sind ein sehr musikalisches Volk, und es ist wichtig, dass eine Übersetzung angenehm tönt. Wenn ich beim Vorlesen meiner Übersetzung anstosse und stolpere, weiss ich, dass sie nicht geschmeidig genug ist. Zum Glück kennen wir uns im Dorf alle gegenseitig, so bitte ich jede Person, die ins Haus kommt, mir zuzuhören. Das können Menschen jeden Alters sein, aber es sind die älteren Leute, die sofort hören, was verbessert werden kann. Ihre Kommentare sind überaus wertvoll. Einmal kam mein früherer Klassenkamerad Sergej zu uns. Nach äusserlichen Massstäben war sein Leben nicht erfolgreich. Sein Haus brannte nieder, als er betrunken war, und seitdem lebt er bei Freunden. Aber er ist der beste Mechaniker im Dorf, und wenn ihm Unrecht angetan wird, hegt er gegen niemanden einen Groll. Er ist auch der eifrigste Leser im Dorf. Und wenn du ihn doch reden hören könntest! Als er zu uns kam, sprach er ein Jakutisch, das von den besten Sprachwissenschaftlern hätte aufgeschrieben werden sollen! Seine Sprache ist schlicht wunderbar. Und so sollte die Sprache der Bibelübersetzung sein – anschaulich, geschmeidig, herrlich. Als erste Lesergruppe für unsere Bibelübersetzung sehe ich nicht in erster Linie christliche Leser, sondern einfache jakutische Dorfbewohner wie Sergej, die ihre Muttersprache kennen und schätzen“.
Ich fragte Sargylana, ob denn diese einfachen Dorfbewohner überhaupt Bücher lesen, und war über ihre positive und spontane Antwort sehr erfreut. „Natürlich tun sie das!“ sagte sie begeistert. „Für unsere Dorfbewohner ist es typisch, dass sie viel lesen. In der älteren Generation sind alle grosse Leser und Liebhaber von Büchern. Von den Kindern und den Teenagern kann man das leider nicht sagen. Sie lassen das Lesen sein und kleben an den Computern. Sogar meine Neffen sind so. Sie lernen gut in der Schule, aber ich sehe sie nie mit einem Buch.“ Ich fragte Sargylana, ob sie denn glaube, es sei nutzlos, ihren Neffen ihre Bibelübersetzungen zu geben, da man doch annehmen könne, dass es für Kinder langweilig sei, die Bibel zu lesen. Das erfordere Geduld und Nachdenklichkeit, und das sei ja nicht gerade typisch für Kinder. Da hellte sich Sargylanas Miene auf.
„Ja, das stimmt!“ sagte sie lächelnd. „Und doch ist da dieser Neffe, dem eine Fingeramputation erspart geblieben ist… Jetzt ist er 14 Jahre alt. Mein Bruder erzählt, dass dieser Junge seine jakutische Kinderbibel überall hin mitnimmt. Am Arbeitsort meines Bruders gab es einen Todesfall. Nun ist es bei uns Tradition, dass nach der Beerdigung des Toten alle Freunde am Ort des Todes eine Nacht verbringen. Mein Bruder ging mit seinem Sohn hin, und der Junge nahm sogar bei dieser Gelegenheit seine Kinderbibel mit. Sie mussten die ganze Nacht wachen. Mein Bruder ist aber nicht gesund, und er brauchte Schlaf. Darum hatte er seinen Sohn mitgenommen, damit dieser an seiner Stelle wachen konnte. So las der Junge die ganze Nacht in seiner Kinderbibel. Ich habe ihn noch nie mit einem anderen Buch gesehen. Es macht mir grosse Freude, dass mein Neffe sie so gerne liest!“
In nächster Zeit werden wir ein Russisch-Jakutisches Biblisches Wörterbuch drucken (1000 Exemplare). 10 Exemplare werden ca. 30 CHF kosten. Eine finanzielle Zuwendung für dieses Projekt würden wir hoch schätzen.
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