Scheinen biblische Texte nicht manchmal widersprüchlich zu sein? Und sind es nicht gerade diese Widersprüche, die sie für alle Menschen, unabhängig von ihren ethnischen, linguistischen oder historischen Kontexten bedeutsam machen? Die Bibel ist keine abstrakte Ideologie, sondern viel mehr eine Lebensquelle, die aus Gott, der Liebe ist, hervorquillt. Wer das Buch Hiob, den Prediger oder die Sprüche als Ideologie liest, wird in Verlegenheit kommen. Wer sie aber aus konkreten menschlichen Situationen heraus liest, kann ihren umfassenden Charakter erfahren. So schienen auch die Voten von den beiden Übersetzungsteams der Adygejer und der Kabardiner widersprüchlich zu sein. Die Mitglieder dieser Teams hatten sich am kürzlich durchgeführten Seminar des IBÜ über die Weisheitsbücher und die poetischen Bücher des Alten Testaments zu einer Diskussion versammelt. Es war ein ungezwungenes Gespräch, und das Seminarthema hat mitgeholfen, den Eindruck der Widersprüchlichkeit zu erklären.
Zuallererst beschäftigte es die Rednerinnen und Redner, ob ihre Namen im Interview genannt würden. Wenn das der Fall gewesen wäre, so hätten sie geschwiegen, obwohl die Liebe zu ihrem Heimatland und ihren Mitbürgern sie zum Reden drängte.
„Für Christen ist die Situation im Kaukasus sehr schwierig. Von meiner ganzen Familie wissen nur meine Eltern von meiner Arbeit. Ich muss die ganze Zeit zwischen meinem Projekt und meinen Verwandten wählen“, seufzte eine junge Frau. „Als ich mich bekehrte, war die Verfolgung sehr heftig. Einer meiner nächsten Verwandten kam mit einem Gewehr in meine Kirche, um mich zu töten. Ich lebte in einer Atmosphäre ständiger Furcht… Es besteht ein Unterschied zwischen unserer Situation und der Situation zentralasiatischer Christen. Diese leiden unter ihren Regierungen, während wir unter unseren Familien zu leiden haben. Wir haben keine Probleme mit den Behörden, aber wir sind zu Hause nicht akzeptiert. Wenn eine junge, unverheiratete Frau es wagt, verschiedene Seminare zu besuchen, so wird das nicht verstanden. Man betrachtet sie als Verrückte. Darum weiss niemand, dass ich hier bin.“
Dann wechselte sie das Thema und wandte sich dem Übersetzungsteam und den Beziehungen der Teammitglieder untereinander zu. Sie vergass die Spannungen, in denen sie als Christin in einer patriarchalen Kultur lebt, und erzählte begeistert: „Unser Teamgeist macht mich trotz allen Unterschieden von Glauben und Konfession glücklich. Diese Aspekte zählen nicht wirklich für die Kaukasier. Was in meinem Land wirklich zählt, ist die Menschlichkeit. Keiner von uns wird je sagen: ‚Ich bin Christ, und du bist Moslem. Darum haben wir nichts gemeinsam‘. Viel wichtiger ist, was für eine Person du bist, was du tust, wie du arbeitest, welches deine menschlichen Qualitäten sind. Wenn du Respekt verdienst, wird man dich auch respektieren und auf dich hören. Im Westen kannst du vielleicht einer Person die Bibel geben und ihr vorschlagen, darin zu lesen. Wenn sie das tut und sich bekehrt, so wird sie beim Lesen selber herausfinden, was sie braucht, um ein neues Leben zu beginnen, und sie wird dich mit neuen Augen anschauen, mit denAugen eines Glaubenden. Im Kaukasus ist es nicht so. Die Leute schauen zuerst auf dich, auf die Art, wie du lebst und wie du dich verhältst, und wenn du ihren Respekt verdienst, werden sie sich vielleicht für die Heilige Schrift interessieren und sie von dir annehmen.“ Dieses neue Bild vom Leben im Kaukasus enthüllte eine ganz andere Facette als die, welche sie wenige Minuten vorher beschrieben hatte.
Die zweite Person, die ich interviewte, ein Mitglied eines anderen Übersetzungsteams, das in einer nahe verwandten kaukasischen Sprache arbeitet, gehörte einer anderen Altersgruppe an. Sie sprach von ihrer Lebenserfahrung: „Meine Verwandten sind nicht gläubig, obwohl sie dem Namen nach Moslem oder Christen sind. Sie denken, ich sei verrückt. Sie sagen: ‚Sie hat studiert und sich weitergebildet, bis sie von Sinnen war‘. Auf Tscherkessisch gibt es dafür einen besonderen Ausdruck (‚ausserhalb des eigenen Kopfes sein‘).“ *
Als wir dann über ihre Landsleute sprachen, vergass auch diese Frau ihre eigenen Schwierigkeiten. Ihre Worte spiegelten nun eine tiefe und selbstlose Liebe. Und wieder war es eine Redensart, die ihr in den Sinn kam: „Wir kennen einen interessanten Ausdruck. Wenn du jemanden fragst: ‚Bist du nicht ein Tscherkesse?‘, meinst du damit ‚Hast du ein menschliches Herz? Bist du fähig, menschliche Freundlichkeit zu zeigen?‘ Das zeigt, wie sehr wir das Wort ‚Tscherkesse‘ respektieren und wie wir es nicht nur in Bezug auf unsere Nationalität verstehen, sondern es in der Tiefe unseres inneren Wesens ansiedeln.“
Die christlichen Mitglieder unseres Tscherkessisch-Übersetzungsteams zeigten ihren muslimischen Kolleginnen und Kollegen gegenüber Zuneigung und Einfühlungsvermögen. „Ich bin froh, dass wir unsere Arbeit einmütig tun. Wir dienen dem gleichen Gott. Während wir Christen bereits verstanden haben, wem wir dienen, sind sie noch unterwegs. Ich selber war auch auf diesem Weg, deshalb würde ich nie jemanden drängen.“ Da klingt der Satz aus dem Hohelied an, wo gesagt wird, wir sollten die Liebe nicht aufstören, bis es ihr selbst gefällt, wir sollten niemanden drängen, bevor die Liebe von selber erwacht. „Unsere muslimischen Übersetzer sind gottesfürchtige Menschen. Für mich ist es sehr wichtig, dass eine Person gottesfürchtig ist. Nicht jeder erkennt Gott, auch wenn er ihn sehr verehrt“, fuhr die Frau weiter, und in ihren Worten klang ein weiterer Bibelvers an, einer aus dem Buch der Sprüche, der in der vorangegangenen Seminarstunde erwähnt worden war: „Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Erkenntnis.“ (Sprüche 1,7)
Der letzte meiner Interviewpartner war ein Übersetzer, der betonte, er sei auf dem Weg, obwohl er bereits an Christus glaube. Zum Glauben zu kommen bedeute für ihn nicht, den Weg abzuschliessen, sondern vielmehr einen Anfang zu machen. Er beendete die ganze Diskussion mit folgenden Worten: „Geistliches Wachstum hat verschiedene Phasen. Heute verstehen wir eine Schicht einer biblischen Aussage, aber in einem Jahr werden wir mehr verstehen. Wenn verschiedene Tscherkessisch-Teams zusammen arbeiten, so diskutieren wir dabei über Wörter und Bezeichnungen. Wenn wir in Einigkeit auf ein Ziel hin arbeiten, werden sich uns auch mehr Bedeutungsschichten eröffnen. Je mehr Übersetzungen in unsere Sprachen gemacht werden, umso mehr Bedeutungen werden sich uns zeigen. Wir sollten so übersetzen, dass der im Original spürbare Reichtum an verschiedenen Bedeutungen auch in unserer Muttersprache erkennbar wird.“
2014 werden das Buch Exodus und das Buch der Sprüche auf Adygeisch und das Buch der Sprüche auf Kabardinisch erscheinen.
Wir danken Ihnen für Ihre finanzielle Unterstützung und für Ihre Gebete.
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* Obwohl sich beide Frauen als ‚Tscherkessinnen‘ bezeichnen, gehören sie zu zwei verschiedenen Übersetzungsprojekten und zwei verschiedenen, wenn auch nahe verwandten Völkern. Der Ausdruck ‚Adygeisch‘ bezeichnet ein einzelnes IBÜ-Projekt, während mit ‚Tscherkessen‘ verschiedene Volksgruppen (darunter Kabardiner und Adygejer) bezeichnet werden, die über mehrere Teile Russlands verstreut leben.
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