Im Institut für Bibelübersetzung denken wir ständig über die Bedeutung unserer Aufgabe nach, die Bibel in die „Herzenssprache“ der Menschen zu übersetzen. Was meinen wir aber, wenn wir von der „Herzenssprache“ reden? Als Erstes denken wir wohl an die Sprache, welche eine Person in ihrem Alltag braucht, die Sprache, in der es ihr am leichtesten fällt, anderen Menschen etwas mitzuteilen. Nun ist es aber interessant festzustellen, dass dieses anscheinend so klare Bild zu verschwimmen und seine festen Umrisse zu verlieren beginnt, je mehr wir mit Vertreterinnen und Vertretern von verschiedenen Volksgruppen und Kulturen sprechen, die sich mit dem IBÜ für die Bibel und deren Übersetzung engagieren. Das ist überraschend! Es scheint eher, dass das Konzept der „Herzenssprache“ tiefer greift als die Sprache an sich und die gesamte kulturelle Weltsicht mitsamt den Ebenen der tiefsten Gefühle, der Kindheit und sogar des genetischen Gedächtnisses umfasst.
Hier folgt die eindrückliche Geschichte eines tatarischen Pastors, dem die Bedeutung der Bibelübersetzungen des IBÜ bewusst ist. In seinem Leben und in seinem Dienst setzt er sie reichlich ein.
„Die erste Bibel, mit der ich bekannt wurde, war natürlich die russische. Und ich war schon gut daran gewöhnt, die Bibel auf Russisch zu lesen, als mir das Injil (Evangelium) auf Tatarisch geschenkt wurde. Als ich nun begann, die Evangelien in der Sprache zu lesen, die von meiner frühen Kindheit an zu mir gehörte, war es, als spräche Jesus persönlich mit mir. Nach dieser Erfahrung wollte ich allen Bibelübersetzern sagen: ‚Was ihr tut ist überaus wichtig, ihr gebt Gott die Gelegenheit, Menschen in ihrer Muttersprache anzusprechen!‘ Bei mir ist Tatarisch wirklich meine Muttersprache, und meine Erfahrung war eigentlich vorhersehbar. Aber es gibt da noch ein eindrücklicheres Beispiel: Ich sprach mit einem Freund über das Evangelium. Obwohl er ethnisch gesehen ein Tatar ist, spricht er das Tatarische nicht gut genug, um es in seinem Alltag anzuwenden. Normalerweise spricht er Russisch. Ich las ihm das Gleichnis vom verlorenen Sohn auf Russisch vor. Er hörte interessiert zu, schien aber durch das Gehörte nicht sonderlich berührt zu sein. Darauf nahm ich das tatarische Injil und las ihm den gleichen Abschnitt auf Tatarisch vor. Kaum war ich bei der Stelle angelangt, wo der Vater seinen älteren Sohn mit dem Wort ulym (‚mein Sohn‘) anspricht, kamen ihm die Tränen, und er weinte lange. Dieses einzige tatarische Wort berührte einige der innersten Saiten seiner Seele und machte ihm tiefen Eindruck.“
„Die Situation der Tataren ist typisch. Einerseits sprechen sie besser Russisch als alle anderen Volksgruppen der früheren Sowjetunion. Die Mehrzahl der Menschen, die in Städten lebt, spricht es besser als Tatarisch. Darum denken viele, es habe keinen Sinn, die Bibel auf Tatarisch zu übersetzen. ‚Warum sollte man das tun, wenn die Leute doch Russisch lesen können und es besser verstehen als ihre Nationalsprache?‘ fragen sie. Andererseits empfinden die Tataren auf einer tieferen Ebene, dass die russischsprachige Bibel Teil einer fremden Kultur ist.“
Es ist wichtig, an dieser Stelle zu erklären, dass im Lauf der Geschichte die Beziehungen zwischen Russen und Tataren nie einfach waren. Überall auf der Welt blockieren alte Verletzungen und stereotype Ansichten den Blick auf das Leben und die Wirklichkeit, wann immer das historische Gedächtnis die oberste Priorität bekommt. Jede russische Person weiss um die Mongolisch-Tatarische Invasion der Rus zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert. Und jede tatarische Person weiss, dass ihre Hauptstadt Kasan im 16. Jahrhundert von den Russen erobert worden ist. Das historische Gedächtnis bringt die Tataren dazu, im Christentum die Religion der Eroberer zu sehen. Darum fährt der tatarische Pastor weiter:
„Unter den Tataren ist die Meinung weit verbreitet, dass die Bibel auf Russisch lesen gleichbedeutend ist wie zum Russen werden. Das macht es zu einer so unglaublich schwierigen Aufgabe, dem tatarischen Volk die Bibel zu bringen.“
„Die Tataren lieben es, etwas an ihre Wände zu hängen“, erzählt der Pastor, „so beschlossen wir, Kalender mit Bibelsprüchen auf Tatarisch herauszugeben. Den ersten Kalender produzierten wir 2012, und sofort wurde er sehr beliebt. Eigenartigerweise erhielten wir viele Bitten, den Bibeltext auf Russisch zu übersetzen und den Kalender zweisprachig herauszugeben! Viele Tataren wollen Bibeltexte gar nicht auf Russisch lesen, aber sie verstehen sie nicht gut genug auf Tatarisch. Darum wollen sie das tatarische „Original“ mit der russischen Übersetzung sehen! Das ist der Widerspruch, der uns half, die psychologische Barriere zu überwinden. Wir publizierten darum biblische Kalender, auf denen wir den tatarischen Text in grosser Schrift druckten, während der russische Text in kleiner Schrift dabeistand. 2015, kurz bevor die vollständige tatarische Bibel erscheinen sollte, baten wir das IBÜ, das Johannesevangelium als zweisprachige tatarisch-russische Ausgabe zu produzieren. Der tatarische Text wurde der neuen tatarischen Bibelübersetzung entnommen. Der russische Text stammt aus der speziell für Muslime gedachten zentralasiatisch-russischen Übersetzung der Heiligen Schrift. Wir bestellten eine Auflage von 5000 Exemplaren. Das IBÜ wie auch die Organisation, der das Copyright für die russische Übersetzung gehört, fürchteten, dass die Bücher in einem Lager verstauben würden. Doch die gesamte Auflage war im Nu verteilt, und wir erhalten fortlaufend gute Rückmeldungen der Leserinnen und Leser. Das Buch hat wirklich seine Leserschaft gefunden, und wir brauchen noch mehr solche zweisprachige Ausgaben!“
Wir vom IBÜ hörten diese Ausführungen Ende 2015. Jetzt, 2016, ist die erste vollständige tatarische Bibel herausgekommen. Und sofort bekamen wir noch mehr Bestätigungen dafür, wie wichtig es für die Menschen ist, die Bibel in ihrer Muttersprache lesen zu können. Kaum war die Information über das Erscheinen der Bibel in den Medien herausgekommen, begann das Telefon im Moskauer Büro des IBÜ andauernd zu klingeln. Eine Menge von Leuten wollte das Buch sofort haben. Ein Mann rief fünfmal an! Er ist ein orthodoxer Gläubiger, von seinem Ursprung her ein Tatar, der in einem Vorort von Moskau lebt. Sein Verlangen, dieses Buch in seiner Muttersprache so schnell wie möglich zu bekommen, war wirklich überwältigend. Es schien, als könne er keine Minute länger warten. Er vereinbarte ein Treffen mit der IBÜ-Koordinatorin des tatarischen Projekts in deren Kirchgemeinde. Er legte dafür eine recht grosse Distanz in einen anderen Vorort Moskaus zurück. Unglücklicherweise hatte er ihre Handy-Nummer falsch aufgeschrieben, und so hätte seine Reise auch fehlschlagen können. Trotz seiner grossen Ungeduld wartete der Mann das Ende eines überaus langen Fastengottesdienstes ab, und es gelang ihm, die Projektkoordinatorin in der sehr grossen Schar der sonntäglichen Gottesdienstbesucher zu finden. Mit tiefer Ehrfurcht und innerer Freude küsste er die Bibel, als er sie endlich in seinen Händen hielt.
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