Die Laken gehören zu den ursprünglich in Dagestan lebenden Völkern. Die kleine Gebirgsstadt Kumuch ist ihr administratives Zentrum, doch heute leben die meisten Laken am Kaspischen Meer in Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans. Der lakische Übersetzer des IBÜ-Bibelübersetzungsprojekts bildet da keine Ausnahme. Das Haus seiner Vorfahren steht in Kumuch, und er benutzt es im Sommer als Ferienhaus, während er sonst in Machatschkala wohnt.
„Für unsere Sprachen ist Machatschkala ein schwarzes Loch“, beklagte er sich, als ich ihn interviewte. Für mich war das eine unerwartete Aussage, hatte ich doch gegenteilige Äusserungen über diese Stadt gehört. Ich erinnerte mich, dass viele Machatschkala als ein „Paradies für Linguisten“ priesen, ist doch Dagestan das Gebiet in Russland, das die meisten verschiedenen Völker beheimatet. In den Strassen seiner Hauptstadt werden 13 oder 14 Sprachen gesprochen, die zu vier verschiedenen Sprachgruppen gehören. Der Übersetzer, dessen Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden soll, erklärte mir seine bittere Aussage so: „Wenn so viele verschiedene Volksgruppen auf einem kleinen Gebiet zusammenleben, müssen die Menschen irgendwie miteinander kommunizieren können, und die einzige gemeinsame Sprache ist Russisch. Darum gelingt es den Laken, die in kleineren Gemeinschaften an entfernten Orten ausserhalb ihres Heimatgebiets leben, so z.B. in Tiflis, in Baku oder gar in Zentralasien, ihre Sprache auf einem höheren Niveau zu erhalten als jene, die in Dagestan leben. Dazu kommt ein weiterer Faktor, der die Sprachkompetenz der Laken schmälert. Das ist paradoxerweise ihre intellektuelle Ausrichtung. Die Laken haben seit jeher die Bildung hoch geschätzt. Aber in allen Lehrbüchern und für die ganze Literatur wird die russische Sprache benutzt. Darum war es während vielen Jahren dem Ansehen förderlicher, wenn man russisch sprach. Die Kenntnisse der Muttersprache blieben so auf dem Niveau stehen, das man für Einkäufe auf dem Markt braucht.“
Nicht nur auf dem Gebiet der Bildung waren die Laken den anderen Bevölkerungsgruppen Dagestans immer voraus. Im 8. Jahrhundert waren sie unter den Ersten, die den Islam als Glauben für ihr ganzes Volk annahmen. Dafür nehmen sie auch heute noch unter ihren Nachbarn eine besondere kulturelle und religiöse Stellung ein und geniessen hohes Ansehen. Auf ihrem Gebiet waren auch die antireligiösen Kampagnen der ersten Jahre unter dem Sowjetregime besonders gewalttätig. Darum verwundert es nicht, wenn heute, in einer Zeit der kulturellen Erneuerung, die jüngere Generation sich wieder der traditionellen Religion öffnet. Es gibt zwar einige Christen unter den Laken, aber es ist sehr schwierig, einen christlichen Laken zu finden, der auch seine Muttersprache wirklich gut beherrscht. Unser Exegeseberater, ein evangelikaler Russe, ist voller Mut aus einer entfernten Gegend Russlands mit seiner Frau und seinen Kindern in das muslimisch geprägte Machatschkala gezogen mit dem einzigen Ziel, einer weiteren Volksgruppe das Evangelium zu bringen. Er sagt, dass lakisch sprechende Christen an einer Hand zu zählen seien. So ist es denn wenig überraschend, wenn auch hier, wie in vielen anderen kaukasischen Übersetzungsprojekten, weitere Teammitglieder zu anderen Kulturen gehören. Die Jüngeren leben in der muslimischen Kultur, die Älteren gehören noch der nachsowjetischen säkularen Kultur an.
Dazu gehört auch unser Übersetzer. Er ist sehr aufgeschlossen, hat einen weiten kulturellen Hintergrund und setzt sich voll Begeisterung für seine Muttersprache ein. So erklärt er leidenschaftlich: „Ich möchte mich an alle Laken wenden: Lernt eure lakische Sprache.“ Und er erzählt folgendes Beispiel aus seiner Übersetzungsarbeit: „Von Johannes dem Täufer wird berichtet, dass er in die Wüste ging und dort predigte. (Matth.3,1) Nun hatten die Leute, denen wir die Geschichte zur Verständnisüberprüfung vorlegten, die Tendenz zu verstehen, Johannes sei ‚zur Seite getreten, um zu predigen‘. Das kommt daher, dass sich die beiden lakischen Ausdrücke für ‚in die Wüste gehen‘ und für ‚zur Seite treten‘nur durch den Fall des Nomens unterscheiden; und weil die Leute diesen Dingen keine Beachtung schenken, haben sie die Bedeutung des ersten Ausdrucks schlicht vergessen. Wir haben in unserer Umgebung keine Wüsten, so kennen sie den Ausdruck für ‚Wüste‘ gar nicht mehr. Sie erinnern sich gar nicht daran, dass es diesen Ausdruck in ihrer Sprache gibt. Dies alles ist überaus traurig, denn es gibt wirklich nichts, das man auf Lakisch nicht ausdrücken könnte.“ Er fährt fort: „Während meinem Leben habe ich in vielen verschiedenen Berufen gearbeitet. Erst als ich schon 50 Jahre alt war, habe ich mich ernsthaft daran gemacht, meine Lakisch-Kenntnisse zu verbessern. Zuerst dachte ich, sie seien recht zufriedenstellend, und ich begann, quasi als interessante Freizeitbeschäftigung, den Koran zu übersetzen. Jetzt aber verstehe ich viel mehr als damals. Jedes Mal, wenn ich übersetze, begegne ich Abschnitten, bei denen ich um mehr Genauigkeit, grössere Vollkommenheit ringen muss. Ich wünschte mir, meine Koranübersetzung wäre gleich getestet worden wie die biblischen Texte mit all den Verständnisüberprüfungen vor Ort, wie sie das Institut für Bibelübersetzung durchführt. Wenn die Leute den Text lesen, ihre Kommentare dazu geben und ihre Missverständnisse äussern, so ist das in der Tat eine sehr nützliche Erfahrung. Die Heilige Schrift ist immer eine Quelle der Inspiration. Man kann sie nicht ein für alle Mal lernen, wie man das Einmaleins lernt, sie dann beiseite legen und einfach bei Bedarf wieder hervornehmen. Wenn du mit diesem Buch in Kontakt kommst, es liest oder auch einfach durchblätterst, wirst du immer etwas finden, das du noch nicht bemerkt hast.Nun beginnen wir mit der Übersetzung des Johannesevangeliums. Es wird schwierig sein, aber wir haben das Ufer bereits verlassen. Natürlich wird es da verborgene Felsen geben, aber wir werden nicht untergehen – wir werden auf dem Wasser gehen!“
Da konnte ich nur lächeln. Unser Übersetzer ist ja nicht Christ, und ich bin nicht sicher, ob er sich bewusst an Jesus oder an Petrus erinnerte, als er mit diesem Satz das Interview abschloss. Der Einfluss der Übersetzung des Markus- und des Matthäusevangeliums, die er kurz vorher beendet hatte, ist aber klar und unzweifelhaft vorhanden.
Ist das nicht ein gutes Gebet für jeden Bibelübersetzer, wenn er an seine Arbeit geht, bei der viele unbekannte, verborgene Hindernisse lauern: „Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme“?
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