Die erste Ausgabe der tuwinischen Bibel wurde von den Überprüferinnen und Überprüfern sowie der tuwinischen Öffentlichkeit sehr geschätzt. Trotzdem wurde vor kurzem anlässlich eines Treffens des Übersetzungsteams mit tuwinischen Kirchenvertretern entschieden, ein Projekt für die Revision dieser Bibel in Angriff zu nehmen. Warum ist das nötig? Der Exeget des tuwinischen Projekts, der IBT-Direktor Vitaly Voinov, beantwortet diese Frage:
„Was immer Menschen auch zustande bringen, es ist nie vollkommen. Selbst wenn wir höchst professionell vorgehen, besteht immer die Möglichkeit, dass die Zeit und eine neue Perspektive aufzeigen, was noch verbessert werden könnte. Dazu kommt, dass die Sprache und die Kultur nie statisch sind, und so muss die Übersetzung immer mit den Veränderungen Schritt halten. Die alten Griechen sagten: πάντα ρεῖ ‚Alles fliesst‘ – so ist es eben auch mit der Sprache und der Kultur. Und wir als Bibelübersetzer müssen das akzeptieren und uns danach ausrichten. Viele Bibelwissenschaftler sind daher der Meinung, dass idealerweise jede Generation ihre eigene Übersetzung haben müsste.“
Aber warum wird denn jetzt, 10 Jahre nach der ersten Ausgabe, eine Revision in Angriff genommen?
„Kaum hatten wir 2011 die Bibel publiziert, verteilten wir Fragebögen, um bei den lokalen Kirchen Kommentare und Anregungen einzuholen, und seitdem bekommen wir laufend Feedbacks. Nach 10 Jahren ist die Zeit nun reif, um einen Überblick zu bekommen und herauszufinden, welche neuen Wörter in den allgemeinen Wortschatz eingefügt und welche von den Leserinnen und Lesern nie richtig verstanden oder aufgenommen worden sind. Das hilft uns, die nötigen Änderungen in den Text einzufügen. Bevor die ganze tuwinische Bibel gedruckt worden ist, hat das IBT einige separate Bibelteile herausgegeben. Alle diese Übersetzungen waren gründlich geprüft worden, wie es zu unserem Übersetzungsprozess gehört. Wir gaben unser Bestes, die schwer verständlichen Wörter zu ersetzen, aber in den vergangenen 10 Jahren hat sich auch die tuwinische Sprache als solche merklich verändert.“
„Unter den häufigsten Anregungen waren Bitten, einige veraltete Ausdrücke zu ersetzen. Darunter war kenen kizhi, die Wiedergabe des hebräischen Wortes: פתי (pati), das im Buch der Sprüche ‚einfache oder naive Person‘ bedeutet. Khizi bedeutet ‚Person‘ und kenen ist ein ‚Dummkopf‘. Trotzdem verstand kaum jemand das Wort kenen. Man findet es zwar in tuwinischen Wörterbüchern, aber es ist aus dem alltäglichen Wortschatz verschwunden. In den Kommentaren, die uns erreichten, fragten die Leserinnen und Leser oft nach der Bedeutung dieses Wortes. Wenn wir nun von verschiedenen Personen mit unterschiedlichem kirchlichem Hintergrund erfahren, dass der gleiche Text bei allen unklar ist, so suchen wir ernsthaft nach einem besser verständlichen Ausdruck, wenn das möglich ist. In diesem besonderen Fall entschieden sich der Übersetzer und ich für das Wort bödüün. Dieses bedeutet ‚einfach‘, ist aber neutral, es schwingt also kein positiver oder negativer Unterton mit. Auch das hebräische pati ist neutral, obschon es in den Sprüchen fast immer im negativen Sinn gebraucht wird: eine naive Person, die Dinge nicht weiss, die man doch wissen sollte. Auch das vorher verwendete Wort kenen hatte diesen leicht negativen Beiklang; da die Leute es aber nicht verstanden, erfüllte es seine ihm zugewiesene Funktion nicht. Nun hoffen wir, dass das besser bekannte Wort im Kontext richtig verstanden werden wird.“
„Neben veralteten Wendungen gibt es andere Fälle, bei denen wir ein Wort oder einen Ausdruck austauschen, um kulturelle Probleme zu vermeiden. So baten uns tuwinische Gläubige, das Wort khereezhen ‚Frau‘ durch einen Ausdruck mit der Bedeutung ‚weibliche Person‘ zu ersetzen. Sie begründeten diese merkwürdige Bitte mit der Erklärung, dass in der tuwinischen Sprache ‚Frau‘ nicht respektvoll genug wirke. Dahinter steht eine interessante Geschichte. Das gebräuchliche Wort khereezhen (Frau) ist nicht wirklich ein tuwinisches Wort. In vorsowjetischer Zeit wurde das Wort ‚Frau‘ durch den tuwinischen Begriff khereezhok wiedergegeben, was etymologisch ‚nicht nötig / zu nichts brauchbar‘ bedeutet. Die traditionelle tuwinische Kultur ist eben patriarchalisch mit der charakteristischen Ungleichheit der Geschlechter. Sowjetische Sprachwissenschaftler versuchten, das Problem durch eine leichte Veränderung des tuwinischen Wortes zu lösen: Sie ersetzten das tuwinische Wort -zhok – durch die russische Wortwurzel für ‚weiblich‘ – zhen. Diese kleine Veränderung hätte die unangenehme Situation entspannen sollen, aber das war nicht der Fall. Die tuwinischen Männer gebrauchten das neu eingeführte Wort im gleichen Zusammenhang und mit dem gleichen verächtlichen Unterton, wie sie das altbekannte Wort gebraucht hatten, und es lag weiterhin derselbe Schatten von Geringschätzung auf ihm.“
Das ist ein lebendiges Beispiel für einen zum Scheitern verurteilten Versuch, das menschliche Bewusstsein künstlich zu verändern, wie gut die Idee zu Beginn auch scheinen mochte. Trotzdem sehen wir auch, dass die in der Bibel respektvollere Haltung gegenüber den Frauen die Weltsicht der tuwinischen Christen verändert hat, wie aus ihrem Anliegen deutlich hervorgeht.
„Ein weiteres Beispiel zeigt, wie eine Änderung, die ursprünglich von einigen Leserinnen und Lesern verlangt worden war, sich im Endeffekt als unnötig erwies. Bei der Vorbereitung der ersten Bibelausgabe erhob eine der tuwinischen Lokalkirchen Einspruch gegen den Ausdruck, mit dem ‚Heiliger Geist‘ widergegeben werden sollte. Sie glaubten, das Wort Sülde, das wir brauchten, sei heidnisch und stehe im Zusammenhang mit kosmischer Energie und keineswegs mit dem biblischen Gott. In anderen Kirchen verursachte dieser Ausdruck jedoch keine Einwände. Und jetzt stellen wir fest, dass er nach und nach auch in der Kirche, die ihn zuerst nicht akzeptieren wollte, gebraucht wird. Die Leute gewöhnen sich an ein Wort, je mehr sie es brauchen, es wird mit der biblischen Bedeutung durchtränkt und nimmt neues Leben an.“
„Am Treffen, an dem wir über die revidierte Ausgabe diskutierten, waren auch einige Tuwinerinnen und Tuwiner, die den Ersatz von veralteten Wörtern nicht wollten. Eine 84-jährige Frau stand auf und sagte: ‚Ich bin so dankbar, dass ihr nicht alle meine Lieblingswörter aus der neuen Bibelausgabe entfernt, Wörter, mit denen ich seit meiner Kindheit vertraut bin. Ich bin bereit, den jungen Lesern und Leserinnen beizubringen, was sie bedeuten‘. Und die jungen Anwesenden waren einverstanden, von ihr zu lernen. Im Lauf der vergangenen 10 Jahre haben auch neue, mit der modernen Technologie zusammenhängende Begriffe in der tuwinischen Sprache Eingang gefunden. Doch es ist nicht Aufgabe der Revision, alte Begriffe im Wortschatz durch neue zu ersetzen, da diese mit moderner Technologie verbundenen Wörter gewöhnlich nichts mit biblischen Konzepten zu tun haben. Das Problem ist komplizierter. Mit dem Erscheinen neuer Wörter gehen einige ursprüngliche tuwinische Wörter dem Verständnis der jungen Generation verloren. Die Aufmerksamkeit der Menschen gehört schliesslich vor allem dem, was sie täglich vor Augen haben, und im Alltagsleben bleibt kein Platz für zu viele Wörterbücher. Wenn es ganz unmöglich scheint, ein Wort, das nicht mehr im Gebrauch ist, zu ersetzen, wird das Problem durch Erweiterung des Wörterverzeichnisses gelöst. Das ist eine weitere wichtige Aufgabe der neuen Bibelausgabe. Und genau für diese Aufgabe bringt uns die neue Technologie überaus wertvolle Unterstützung. Dank den Veränderungen, die das Smartphone gebracht hat, ist ein wichtiger gesellschaftlicher Wandel im linguistischen Bereich eingetreten. Vorher gab es ein tuwinisch-russisches Wörterbuch nur in der herkömmlichen Buchform, und die wenigsten Menschen hatten ein solches auf ihrem Büchergestell. Heute aber steht das tuwinisch-russische Wörterverzeichnis als Bibel-App zur Verfügung. Bei der IBT-App Ыдыктыг Библия (Ydyktyg Biblia) können die Nutzerinnen und Nutzer auf ein Wort klicken und die Erklärung dazu auf dem Mobiltelefon nachlesen. Als Entwickler können wir dieses Wörterverzeichnis so sehr erweitern, wie es nötig ist. Eine unmögliche Aufgabe, um die uns tuwinische Leserinnen gebeten haben, nämlich die Grösse der Bibel so zu reduzieren, dass sie in eine Handtasche passt, und gleichzeitig die Schrift zu vergrössern, kann jetzt mit einer App leicht gelöst werden, auch wenn die beiden Vorgaben in Papierform nicht kombinierbar sind. Um die Wünsche der Leserinnen zu berücksichtigen, wird jedoch die Bibel der 2. Ausgabe kleiner sein als die vorhergehende. Wenn die neue Bibel gedruckt sein wird, werden wir Vertretungen aller Lokalkirchen zu der feierlichen Übergabe einladen und die Unterschiede zwischen den beiden Ausgaben noch einmal erklären.“
Danke, dass Sie diese Revisionsarbeit unterstützen, die pro Tag 35 CHF kostet. Zur Zeit fehlen uns noch 56% des Budgets, das sind etwas mehr als 200 ungedeckte Tage.
SPENDENKONTO:
Kirchgemeinde Hirzenbach, 8051 Zürich / IBAN CH54 0070 0 111 8000 5298 6 / Vermerk: „Russland/Zentralasien“
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