„Das Zelt besteht aus Rentierhäuten und ist mit einer Plane gedeckt, so ist es im Inneren wirklich warm, auch wenn es draussen sehr kalt ist. Du solltest dein zahmes Rentier immer zu dir ins Zelt nehmen, sonst wird es ganz verrückt wegen der Mücken“, - So beginnt Tatjana Lar, Übersetzerin in unserem Nenzisch-Projekt und berühmte Sängerin der nenzischen Lieder und Epen, ihre Geschichte. „Siehst du, im Sommer gibt es so viele Mücken, dass es auf einem Rentier nicht genug Platz für alle gibt. So müssen sich die, welche später kommen, auf die zuerst angekommenen Mücken setzen. Die erste Lage von Mücken saugt das Blut des Rens, und die zweite Lage saugt die eigenen Kameraden der ersten Schicht aus... Kein Wunder dass die armen Tiere verrückt werden.“ (Um die Wahrheit zu sagen, werde ich selber während des Interviews mit Tatjana beinahe ein wenig verrückt, wenn ich mir das arme Ren mit mehreren um Platz kämpfenden Mückenschichten auf seinem Rücken vorstelle!...) „...Das ist einer der Hauptgründe, warum die Rentierhüter im Sommer, wenn die Tiere weiden, ihre Herden zusammentreiben“, fährt Tatjana weiter. „Bei grossen Rentierherden schützen sich die Tiere gegenseitig vor den Mücken.“
„Ja, und im Winter kann die Temperatur bis minus 60 Grad Celsius sinken,“ fährt sie wie selbstverständlich weiter. „In diesem Fall kannst du so starke Frostbeulen bekommen, dass deine Wangen schwarz werden. Der einzige Schutz besteht darin, Wangen und Nase ohne Unterlass zu reiben.“ Ich frage, ob ein guter synthetischer Mantel nicht vor dieser unerträglichen Kälte schützen würde. Sie lacht herzlich, bevor sie antwortet. „Synthetische Kleider sind nutzlos! Sie werden nicht einmal in Betracht gezogen, wie gut sie auch sein mögen. Alle unsere Kleider werden aus zwei Schichten von Rentierhäuten mit dem Fell gemacht. Das Fell muss auf der Aussenseite wie auch auf der Innenseite sein. Wenn du diese Kleider anziehst, wirst du so schwerfällig und unförmig wie ein Bärenjunges. Aber dieses Leben in den Zelten ist sehr gesund. Menschen, die ihr ganzes Leben in einem Zelt verbracht haben, werden das Zelt nicht mit einer Stadtwohnung tauschen. Wenn du dein Zelt mit einer Wohnung tauschst, was machst du dann mit deinem zahmen Rentier? Es in die Wohnung nehmen? Unmöglich! Meine Mutter, die ihr ganzes Leben in einem Zelt verbracht hat, ist jetzt über 90 Jahre alt, aber sie sieht jung aus. Abgesehen vom Krebs, an dem so viele Leute wegen der früheren Atomtests in unserer Gegend sterben, sind wir wirklich ein gesundes Volk!“
Tatjana arbeitet seit zehn Jahren im Projekt. Zusammen mit einer koreanischen Exegese-Beraterin bilden sie ein starkes Team, das intensiv arbeitet. Im Laufe dieser Jahre sind zwei Evangelien (Lukas und Markus) erschienen, und ein Kinderbuch mit CD ist vor kurzem auf Wunsch der Leser neu gedruckt worden. Die Nenzen brennen darauf, die Gute Nachricht in der Sprache ihres Herzens und ihrer Kultur zu hören. Tatjana trägt und verbreitet diese Kultur mit ihrem volkstümlichen epischen Singen auf einzigartige Weise.
„Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden“, sagt sie. „Als ich mit dem Übersetzen der Evangelientexte anfing, war das unglaublich schwierig. Obwohl ich meine Sprache gut sprechen konnte, hatte ich doch keine Ahnung, wie man dieses Wort oder jenen Ausdruck schreiben sollte. Ich kannte weder Grammatik noch Rechtschreiberegeln meiner eigenen Sprache. Und mir ging auf, dass meine Denkprozesse auf Russisch und ganz und gar nicht auf Nenzisch vor sich gingen. Das hatte ich nicht erwartet. Aber eigentlich ist es nicht erstaunlich, dass wir auf Russisch denken! Der Unterricht in den Schulen findet auf Russisch statt, wir lesen russische Bücher, und auch das Fernsehen ist russisch. Mit der Zeit und mit der fortschreitenden Arbeit geschah jedoch etwas Interessantes. Ich entdeckte voller Erstaunen, dass ich im Laufe der Arbeit am Projekt gelernt habe, in meiner eigenen Sprache zu denken! Ich habe angefangen, mein eigenes Volk tief in meinem Herzen zu spüren. Und letzthin ist mir noch etwas Anderes passiert. Erinnerst du dich an diese nenzischen Lieder, die ich gestern gesungen habe? Das sind meine eigenen Lieder, und es sind Gebete. Ich habe angefangen, Gebete in meiner Muttersprache zu komponieren. Ich habe gelernt, auf Nenzisch zu Gott zu beten.“
Missionare aus dem hohen Norden berichten uns: „Auf unserer Reise verteilten wir mehr als 80 Exemplare des nenzischen Markusevangeliums mit dazugehöriger CD, die Sie uns gesandt haben. Wir konnten sehr gute Beziehungen zum Leiter und zu der Lehrerschaft der lokalen Elementarschule aufbauen. Sie nehmen alles, was auf Nenzisch geschrieben ist, in das Unterrichtsprogramm auf, weil es nur sehr wenige auf Nenzisch publizierte Schriften gibt.“
Jetzt arbeitet das IBT an der Übersetzung des Matthäusevangeliums auf Nenzisch.
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