Aus Todesgefahr gerettet und mit neuem Leben in Christus beschenkt
Rundbrief Frühling 2015: Bericht über das nenzische Projekt

Eine der letzten Publikationen des IBÜ ist das nenzische Johannesevangelium mit einer beigefügten Audioaufnahme. Die Geschichte dieser Veröffentlichung zeigt deutlich, wie das Leben in Christus Menschen dazu bringt, Verbindungen zu anderen Menschen herzustellen, auch wenn diese wegen ihres kulturellen Hintergrunds, wegen ihrer Sprache oder ihrer sozialen Stellung fremd erscheinen. Genau besehen sind diese Beziehungen die ersten Früchte des Gottesreichs, in dem menschliche Barrieren bedeutungslos sind.

Die Nenzen bewohnen die Tundra und das Waldgebiet im hohen Norden Russlands (den nordwestliche Teil Sibiriens, die Inseln im Nördlichen Eismeer und die Kola-Halbinsel). Es ist ein Land des Permafrosts und weiter Sumpfgebiete. Das Klima ist sehr hart. Schnee fällt an durchschnittlich 260 Tagen des Jahres, und die Temperatur sinkt bis zu -70 Grad Celsius. Die Distanzen zwischen den Ortschaften sind gross, die Bevölkerungsdichte ist gering, und in den Ortschaften ist Alkoholismus verbreitet. So ist es nicht verwunderlich, wenn unter diesen extremen Bedingungen die Menschen kaum mit Unbekannten kommunizieren. Leider kommt es auch vor, dass christliche Gemeinschaften es vorziehen, isoliert zu leben. So wissen sie nicht viel über Aussenstehende und Fremde. Unsere Übersetzerin, die bekannte nenzische Sängerin Tatjana Lar, erinnert sich, wie sie nach dem Tod ihres Vaters nach Gott zu suchen begann. Von einer sibirischen Freundin eingeladen, besuchte sie eine erste christliche Gemeinde. Tatjana fühlte sich aber so fremd und verängstigt durch die strengen Blicke der Gemeindeglieder, dass sie so schnell wie möglich den Raum verlassen wollte. Eine andere christliche Gemeinde in ihrer Stadt war so bekannt für ihre ultrakonservativen Auffassungen und ihr unfreundliches Benehmen, dass Tatjana es schon gar nicht wagte, dorthin zu gehen. So wird eine ehrliche Gottsuche manchmal durch Härte oder durch Angst behindert, und der oder die Suchende fühlt sich dann innerlich leer und allein mitten in einem sinnlosen Universum. Genau das war der Fall in Tatjanas Leben. Ihre ersten Kirchenerfahrungen spiegelten bloss die alltägliche Situation im Leben der meisten Menschen.

Tatjana erzählte uns einige Begebenheiten, die sich nur ereignen konnten, weil die Menschen davor zurückschrecken, sich mit denen zu verbinden, die anders sind. Nenzische Nomaden decken sich üblicherweise in der Stadt Salechard mit Vorrat für den ganzen Winter ein, da sie in dieser Jahreszeit mit ihren Rentieren durch die Tundra ziehen. So kauften einmal einige nenzische Rentierhirten mehrere grosse Packungen Tee und Crackers ein. Als sie im Frühling in das Geschäft zurückkamen, beklagten sie sich, die Esswaren, die sie eingekauft hätten, seien von Beginn weg verdorben gewesen: „Wir gaben so viel Tee in unsere Tassen, aber das Wasser verfärbte sich kaum, und es schmeckte wie dürres Gras. Wir gaben mehr und mehr dazu, bis uns allen ganz schwindlig war. Und die Crackers wagten wir gar nicht erst zu versuchen, weil sie ganz mit schwarzem Schimmel bedeckt waren!“ Es zeigte sich, dass sie noch nie etwas von Grüntee und von Mohnsamen gehört hatten… Andererseits kaufen russische Jugendliche auf der Suche nach Drogen zum Rauchen manchmal von Nenzen ein Pulver, das aus einem auf Birken wachsenden Schmarotzerpilz hergestellt wird. Tatjana berichtet: „Wenn unsere Leute das Pulver verkaufen, fragen sie sich, was mit diesen jungen Russen wohl geschehen wird, denn in der nenzischen Medizin wird das Pulver als Antiseptikum verwendet.“ Es scheint, dass die Leute ihre eigenen Vorstellungen von der Kultur und der Zivilisation der Anderen so sehr schätzen, dass sie keinen Versuch unternehmen, eine echte Kommunikation herzustellen.

In diesem kalten Land, wo die Menschen in weit verstreuten Gruppen leben und es nicht gewohnt sind, mehr als nötig Kontakte zu knüpfen, ist der Wunsch, Beziehungen aufzubauen, eine besondere Tugend, die Kraft von oben benötigt. Die Geschichte unserer Exegeseberaterin Eunsub aus Korea belegt dies: „Als ich Ende 2000 nach Salechard kam, konnte ich mir die nenzische Sprache nur über den nenzischen Rundfunk anhören. Wöchentlich nahm ich das nenzische Programm auf und hörte mir die Aufnahmen immer wieder an. Eine meiner bevorzugten Ansagerinnen war Raissa*. Ihre Aussprache war klar und schön. Obwohl ich ihr noch nicht begegnet war, begann ich von einer Audioaufnahme der nenzischen Bibel mit ihrer Stimme zu träumen. Später traf ich sie einige Male an nenzischen Anlässen, obwohl es für mich nicht leicht war, in ihre Nähe zu kommen. Sie war so gut eingebettet in ihrer Kultur, und sie war auch sehr stolz darauf. Es schien, als gäbe es für mich keine Gelegenheit, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Doch ich hörte nie auf zu beten, dass sie doch in unsere Arbeit der Bibelübersetzung einbezogen werden könnte.“

Anfänglich war nicht geplant, das Johannesevangelium als separate Ausgabe zu veröffentlichen. Es sollte später, zusammen mit den drei anderen Evangelien und der Apostelgeschichte, herausgegeben werden. Ende März 2014 gab es am Rentierfestival jedoch Besucher aus der Tundra, die nach biblischen Schriften auf Nenzisch fragten, und nenzische Gläubige gaben ihre Geldspenden für das nächste Buch, das in ihrer Sprache publiziert würde. Eunsub war offen für diese neue Situation. Das veränderte den ursprünglichen Plan des Übersetzungsteams. Es wurde beschlossen, das Johannesevangelium als eigenständiges Buch herauszugeben. Tatjana Lar berichtet, dass sie während des Übersetzens die Gegenwart des Heiligen Geistes stark wahrgenommen habe. Es gelang ihr, die ganze Übersetzung in relativ kurzer Zeit zu beenden, während sie nebenbei an einer christlichen Konferenz noch half, Aufnahmen von christlichen Kinderliedern auf Nenzisch zu produzieren.

„Als wir die Überprüfung des Johannesevangeliums vorbereiteten“, fährt Eunsub in ihrer Erzählung weiter, „fasste ich erneut Mut und rief Raissa an. Und sie willigte ein, uns zu helfen! Es stellte sich dann heraus, dass sie ein paar Jahre zuvor bei einem Autounfall beinahe ums Leben gekommen wäre, aber sie und ihr ungeborenes Baby überlebten. Diese Textüberprüfung war dann der erste Schritt, der dazu führte, dass Raissa in das Übersetzungsprojekt einbezogen wurde. Mit ihrer guten Sprachkenntnis machte sie eine hervorragende Arbeit. Als dann die Zeit für die Aufnahmen gekommen war, wagte ich es, sie darum zu bitten, den Text zu lesen. Sie konnte für die Aufnahmen zwar nicht in unser IBÜ-Büro kommen, doch fanden diese dann im Studio des lokalen Radios statt, was im Endeffekt viel besser war. Wie gross ist unser Herr! Er rettete Raissa aus Todesgefahr und schenkte ihr neues Leben in Ihm!“

Tatjana erzählt weiter, wie sie, durch ihre Arbeit an der Bibelübersetzung und die erneuerte Liebe für ihre Muttersprache inspiriert, weiterhin christliche Lieder auf Nenzisch komponiert. Wenn junge Nenzen diese hören, kommen sie zu ihr und bitten sie, sie zu unterrichten. Sie konfrontiert sie mit der Frage: „Habt ihr denn keine Angst, dass man euch als Anhänger eines fremden Kults ansehen könnte?“ Sie verneinen es. Durch die Schönheit dieser Lieder in ihrer Muttersprache angezogen, beginnen sie, sich für den lebendigen Gott zu öffnen. Einige von ihnen interessieren sich auch für die Bibelübersetzung. Die Samen für eine nenzische christliche Kultur sind bereits ausgestreut. Was Raissa betrifft, hat sie vor kurzem an einem Seminar für Neueinsteiger in die Bibelübersetzung mit dem IBÜ teilgenommen!

* Name wurde geändert.

 

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