Warum ist es so schwierig, die Bibel zu übersetzen?
Rundbrief, Herbst 2020

Während der Covid-19-Quarantäne war es nicht möglich, Trainingsseminare in Anwesenheit der Übersetzerinnen und Übersetzer abzuhalten. Deshalb wurde das geplante IBT-Seminar über die zwei Kleinen Propheten Habakuk und Maleachi als Videokonferenz durchgeführt. Diese zwei kurzen Bücher machen nur einen kleinen Teil der Bibel aus, es sind nur sieben Kapitel. So wollen wir in dieses virtuelle Seminar einsteigen und uns auf eine Diskussion über einen einzigen Vers konzentrieren, über Maleachi 2,2.

In der Zürcher Bibel von 2007 lautet der Vers: „Wenn ihr nicht hört und wenn ihr es euch nicht zu Herzen nehmt, meinem Namen Ehre zu erweisen, spricht der HERR der Heerscharen, so schicke ich die Verfluchung unter euch und belege eure Segenssprüche mit einem Fluch! Und fürwahr, ich habe sie schon mit einem Fluch belegt, denn ihr nehmt es euch nicht zu Herzen!“

Was ist „Segen“? Und was „Fluch“? Wenn wir diese Wörter heute brauchen, dann übermitteln wir gewöhnlich unsere guten oder schlechten Gefühle an jemanden oder an etwas. Für Personen der biblischen Kultur waren diese Worte jedoch nicht bloss Rede, sondern Taten. Der Segen vermittelte lebendige Kraft, der Fluch nahm diese weg.

 Andrei, unser Dozent, zeigt den Vers zuerst im hebräischen Original, dann in verschiedenen russischen Übersetzungen und zuletzt in seiner eigenen Übersetzung. Er liest den Text langsam auf Hebräisch vor und gibt ihn Wort für Wort in einer wörtlichen Übertragung wieder. Er hält bei jedem Satzteil an, der Schwierigkeiten verursachen könnte: „Sich zu Herzen nehmen“ heisst fest entschlossen sein… Ehre erweisen heisst verehren, den Namen Gottes verehren…“ Die Seminarteilnehmer wissen bereits vom vorhergehenden Kapitel aus Maleachi, dass der „Name“ ein Stellvertreterwort für „Gott“ ist, da die Juden von einer gewissen Zeit an den Namen YHWH nicht mehr laut aussprachen. So bedeutet „meinem Namen“ ganz einfach „mir“.

Der Dozent eröffnet die Diskussion: „Die Bedeutung von ‚Ich belege eure Segenssprüche mit einem Fluch‘ ist klar, aber vielleicht wird das in der Übersetzung nicht so gut tönen.“ Der darginische Übersetzer reagiert sofort: „Es ist SEHR schwierig. Ich habe keine Ahnung, was ich als Übersetzer damit anfangen soll.“ Der Dozent schlägt die Auslegung vor: „Ich werde eure Segenssprüche in Flüche verwandeln“, und das scheint für darginische Ohren annehmbar zu sein. Die yakutische Übersetzerin schlägt eine andere Variante vor: „Die Dinge, die du segnest, werde ich verfluchen“ – und sie erklärt: “Yakuten würden nicht sagen: ‚Ich verfluche eure Segenssprüche‘.“ Der Dozent erwidert: „Es gibt sehr viele Dinge in der Bibel, die man im Alltag so nicht sagen würde. Es ist nicht unsere Aufgabe, so zu übersetzen, als wären diese Texte gewöhnliche Redensarten oder alltägliches Wortgeplänkel. Es ist nichts Schlimmes dabei, wenn ihr ein neues Konzept auf neue, unübliche Weise in eure Sprache übersetzt.“

Der Wort-für-Wort-Kommentar geht weiter: „…denn ihr nehmt es euch nicht zu Herzen.“ Was ist mit dem Wörtlein „es“ gemeint? Nach dem früheren Kontext steht das Wort „es“ für „Gebot“. Aber das Wort „Gebot“ (Hebräisch mitzwa) bedarf einer besonderen Übersetzungsentscheidung. Jedes Übersetzerteam muss sich entscheiden, ob es den gleichen Ausdruck verwenden will, den es für die Zehn Gebote gebraucht hat. Der Unterschied besteht darin, dass hier der Herr nicht über den Bund spricht, den er mit dem ganzen Volk Israel geschlossen hat. Er richtet sich hier nur an die Priester und spricht über die für das Opfer geeigneten Opfertiere. Das ist wirklich ein anderer Zusammenhang, eine engere Bedeutung. Wenn sich die Übersetzer für ein anderes Wort entscheiden, wird ihr nächstes Problem darin bestehen, aus vielen Wörtern mit ähnlicher Bedeutung einen möglichst genauen Ausdruck zu finden. Hier beginnen die Übersetzer aus einigen kaukasischen Sprachen über ein Wort zu diskutieren, das unter anderem auch „der letzte Wille“ bedeutet. Sie verwerfen es aber, weil es nur zwischenmenschliche Beziehungen beinhaltet und sich nicht auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch bezieht. Im darginischen Projekt versuchen sie es mit einem Wort das „Auftrag“ bedeutet, aber das tönt zu umgangssprachlich…. Schliesslich schlägt die awarische Übersetzerin das für alle verständliche kaukasische Wort amru vor (das bedeutet Befehl), und der darginische Übersetzer ist mit Freuden einverstanden, da es perfekt in den Kontext passt. Das ist ein Beispiel für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Übersetzerinnen und Übersetzern aus verschiedenen, untereinander aber verwandten Sprachen.

 Dann bricht eine lebhaft Diskussion über einen in der Bibel wichtigen Begriff aus – wie „der Herr der Heerscharen“ am besten zu übersetzen sei. Zwei Vorschläge werden gemacht: „Der Herr der Scharen“ und „der Herr der himmlischen Rangordnung“. Die awarische Übersetzerin beharrt darauf, dass in ihrer Sprache „der Herr eines mächtigen Heeres“ die beste Übersetzung wäre. Der Dozent fragt sich, ob dies nicht als „Herr eines bewaffneten Heeres eines bestimmten Landes“ verstanden werden könnte. In dem Fall wäre es eine merkwürdige Übersetzung, aber die awarische Übersetzerin argumentiert heftig, dass ihr Volk spirituell zu sehr bewusst ist, als dass es dies auf eine so unedle Art verstehen würde. Das kumükische Team schlägt einen im Islam sehr bekannten Ausdruck vor, der „Herr der Mächte“ bedeutet, aber in der awarischen und in der darginischen Übersetzung ist dieser Begriff schon für einen anderen Namen Gottes eingesetzt – „der Allmächtige“. Eine Übersetzerin einer der finno-ugrischen Sprachen beklagt sich: Obwohl ihr Übersetzungsteam einen genauen Ausdruck gefunden hatte, der auch in den Verständlichkeitstests gut akzeptiert worden ist – „der Inhaber der himmlischen Macht“ – hätten die lokalen Kirchenbehörden sie gewarnt, dass sie die Bibelübersetzung nicht annehmen würden, wenn irgendwelche andere göttliche Namen als „Gott“ verwendet würden, wie unterschiedliche Namen in der biblischen Ursprache auch verwendet sein mögen. Nach dieser Klage erzählten auch einige andere Teams, dass ihre lokalen Kirchen den ganzen Wortschatz ihrer Sprachen in christliche und heidnische Wörter aufteilten. Das ist zwar eine gänzlich unwissenschaftliche Betrachtungsweise, aber was soll man da tun? Das russische Wort für „Gott“, das heutzutage untrennbar zum Monotheismus gehört, wurde in der Vergangenheit benutzt, um die Gottheiten des slawischen Götterhimmels zu bezeichnen. Und das gilt auch für alle anderen Sprachen der Welt. Wissenschaftlern ist das bekannt, aber wie können wir die lokalen christlichen Gemeinschaften überzeugen?..

 Es wurde klar: Die Übersetzerinnen und Übersetzer mögen noch so intelligent und so genau arbeiten, es wird unmöglich sein, alle Übersetzungsprobleme an einer einzigen wissenschaftlichen Veranstaltung zu lösen. Sie sind grösser und bedeutender und berühren auch Gebiete der Soziologie und der Psychologie. Es geht nicht nur darum, dass keine Übersetzung je vollkommen sein wird. Immer, wenn die Bibel in eine neue Sprache übersetzt wird, werden neue Fragen aufgeworfen, tauchen vorher unbeachtete Probleme auf, werden neue Konzepte entwickelt, und Wortbedeutungen verändern sich. Dinge, die vorher unannehmbar schienen, werden normal. Durch die Jahrhunderte hindurch hat das Wort Gottes das Bewusstsein des Gottesvolkes geformt, und das tut auch jede neue Bibelübersetzung. Habakuk und Maleachi bilden da keine Ausnahme. Ihre Botschaft wurde von späteren Generationen völlig anders wahrgenommen – vor dem Hintergrund des Neuen Testaments.

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